Mühlengeschichte des Mühlendorfs Räbke
Die Mittelmühle / Mittlere Papiermühle
Auszug aus den Publikationen von Joachim Lehrmann (s. u.)
Anm.: Der Name der Mühle bezieht sich auf die Herrschaft Warberg
Vom alten Osterfeuerplatz am Holmestein fließt in gerader Richtung nach Osten ein Mühlengraben zur “Mittleren Papiermühle“, Nr. 87. „Auf diesem Platz hat im 16. Jahrhundert bereits eine herrschaftliche Pacht-Mahlmühle gestanden ; wie lange schon, ist unbekannt.
1594 jedoch hat der Edelherr Anton von Warberg sie an den Helmstedter Patrizier und Buchhändler Hermann Brandes verkauft, und zwar „zu Behuf (Zweck) und Förderung der hochlöblichen Julius-Uniuersitet“! Denn Helmstedt war für längere Zeit der einzige Standort einer Universität in diesem Lande, und Brandes fungierte auch als Mäzen der Universität und speziell der herzoglichen Buchdruckerei.
Und aufgrund ihrer im Jahr 1576 in modernem protestantischem Zeitgeist erfolgten Gründung entwickelte sie sich rasch zur drittgrößten Hochschule im Reich. Entsprechend angesehene Professoren publizierten hier auf der von Herzog Julius eingerichteten Universitätsdruckerei des angesehenen „Typographus“ und Meisters des Holzschnitts Jacob Lucius der Jüngere ihre zahlreichen Werke. Hieraus resultierte ein zunehmender Ausbau der Druckerei wie auch ein stetig wachsender Papierbedarf.
Zwar war es seitens der Fürstlichen Kammer vorgesehen, dass die Herzogliche Papiermühle zu Oker am Harz das für die Alma-Julia erforderliche Papier bereitzustellen habe, doch die war angesichts dieser Aufgabe recht bald überfordert – zumal sie auch den fürstlichen Amtsstuben gegenüber verpflichtet war.
Als der Welfenuniversität buchstäblich das Papier ausging, sah sich Hermann Brandes – als Buchhändler all der angesprochenen Publikationen durchaus im eigenen Interesse – genötigt, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Folglich gründete er im Jahre 1594 in der Nähe Helmstedts am Elm, an der damals wasserreichen Schunter, das erste Räbker Papiergewerk, und zwar die Mittelmühle, ca. einen Kilometer unterhalb des Dorfes nach Frellstedt hin gelegen. Indem er dieses Gewerk für seine Zwecke umbaute, hat er Räbke die erste Papiermühle gegeben und ein Gewerbe, das zu großer Blüte gelangen sollte. Damit hat er sich ein Verdienst um den Ort erworben, das ihm nicht vergessen werden darf, wie ein früherer Chronist zu Räbkes Papiermühlen resümiert.
Brandes agierte allerdings ganz nach Art eines städtischen Großunternehmers, der zudem in zahlreichen Gewerben zu Hause war. So hat er den Ort neben der Papiermühle bald mit weiteren Gewerken versehen. Darunter befanden sich eine Mahlmühle, eine „Bookemühle“ zur Flachsaufbereitung, eine Lohmühle mit angeschlossener Gerberei, Häuser für die angesiedelten Handwerker wie Schuster, Schneider etc., sowie eine öffentliche Schenke. Dabei sei all dies „wie ein kleinß Städtgen” anzusehen gewesen.
Der zu erwartende Dank kam bei Brandes nicht so recht an, denn der Herrschaft standen derartige „Strukturverbesserungen des ländlichen Raumes“ (wie wir dies heute nennen würden) „diametro zuwider“ und es entspann sich ein regelrechter Mühlenkrieg.
Dabei ging es hoch her. Wir hören von „Uffwigelung und Rebellion“, von „Vergewaltig- und Verbrechungen“, der Pastor wetterte „unter der Predigt“ gegen Brandes. Dessen Leute wurden von den Warberger Vögten gejagt, Schüsse fielen…
Es ging um die „Abgrabung des Wassers“, die „Abhängung der Mühlenräder“, um „durchbrochene Planken“, und schließlich hören wir von der Ersteigung des Brandesschen Hofes „bey finster-nächtlicher Zeit“… Dieser Kleinkrieg wurde bis zur bitteren Neige bzw. bis hin zur „Einreißung der newen Gebew” (… neuen Gebäude) geführt und beschäftigte noch lange die Gerichte.
Dennoch ging es in dem Prozess am wenigsten um die Papiermühle selbst, denn die stand von Anfang an unter hoheitlichem Schutz. Als ein Vertrauensbeweis seitens der Fürstlichen Kammer ist es vielmehr anzusehen, dass die Räbker Papierproduktionsstätte jahrelang in fürstlichem Auftrag das Papier zu den seit 1607 in Helmstedt gedruckten Braunschweigischen Historischen Handlungen des Professors und Historiographen Henricus Meibom lieferte – ein Mammutwerk von vier Bänden und ca. 6.000 Seiten.
Im Jahr 1609 ging von Räbke die Folgegründung einer Papiermühle aus, nämlich zu Salzdahlum. Auch hier stand Hermann Brandes als Finanzier im Hintergrund.
Kennt man erst einmal das Familienwappen der Brandes, so findet man es nicht nur zweimal am Fuß der 1590 von Mante Pelking gegossenen imposanten Bronzetaufe in St. Stephani zu Helmstedt und in der Architektur der Stadt (s. Lehrmann), sondern in den verschiedensten Ausgestaltungen auch als Wasserzeichen in den Warberger Akten als Existenznachweis dieses ersten Räbker Papiergewerks (Abb. bei Lehrmann).
Der Neubeginn nach dem Dreißigjährigen Kriege
Als ein Gehöft in Einzellage musste die im Kriege desolat gewordene Mühle offenbar sogar abgetragen werden, um marodierender Soldateska und Räuberbanden keinen Unterschlupf zu bieten.
Dann aber war es der Räbker Ernst Wanschape (Wahnschaffe), der im Jahre 1676 den „wüsten Mühlenplatz“ von den Brandesschen Erben kaufte und der Papiermühle schließlich die Auferstehung brachte.
Auf der Mittelmühle folgten nun mehrere Wahnschaffe-Generationen, welche zumeist andere Mühlen-Gewerke betrieben, die Mittelmühle aber weiter ausbauten und diese nach außen hin vertraten, während sie als Papiermacher verschiedene Meister dieses Fachs pachtweise einsetzten, etwa die Papiermacher Schöner, Kanebley, Göbel, Bergmann…
1686 erweiterte Ernsts Sohn Andreas Wahnschape, Ölmüller zu Räbke, das Gewerk um einen zweiten Wassergang. Die Mühle besaß jetzt zwei versetzt übereinanderstehende Wasserräder ! Damit verdoppelte er die Zahl seiner Stampflöcher bzw. ‑tröge in nun zwei gewaltigen „Löcherbäumen“ zur Lumpenzerkleinerung auf deren acht, in denen 32 eisenbewehrte „Stampen“ (Stirnhämmer) klickten und dröhnten.
Der nun folgende Wilhelm Friedrich Wahnschape war selbst von der Profession. Er hatte das Unglück, dass ihm die Mühle mit all dem Seinigen um 1720 infolge Blitzschlags abbrannte. Doch er baute sie nicht nur wieder auf, sondern plante auch umfassende Verbesserungen, namentlich 1723 die ungemein frühe Anlage eines Holländer Werkes, das mit seiner Walze die Haderlumpen schneller und vollkommener zerkleinern konnte, als es die bis dahin gebrauchten Stampfgeschirre vermochten. So war mehr und feineres Papier zu liefern. Es ist dies der früheste Nachweis dieser wichtigsten Maschine in der Zeit der alten Hand-Papierverfertigung in „Niedersachsen“ – und einer der allerersten „Papier-Holländer“ in ganz Deutschland ! Es war dies eine zukunftsweisende Technologie, die zu einer Revolution in der Zerkleinerungstechnik führen sollte. Aber erst seinem Sohn Johann Georg gelang es 1749, die Genehmigung für diesen Umbau zu erlangen – auch dies erst nach heftigen Schwierigkeiten mit der Fürstl. Kammer, die, wie schon seinerzeit, die Konkurrenz ihrer eigenen Papiermühle in Räbke fürchtete.
Auf der Mittelmühle aber erfolgte nun die Herausbildung zur Manufaktur – mittels verschiedener fremdkraftbetriebener Maschinen und Apparate. Nach Vollendung dieser Neuerungen glaubte man, dass die Mühle der großen herrschaftlichen Papiermühle in Oker kaum nachstehe.
1764 kaufte der schon erfahrene Johann Ernst Schaarschmidt, übrigens aus Plauen im Vogtland bürtig, diese Mühle. Nur drei Jahre darauf wurde er als einer der „führnehmsten Papiermacher” des Landes bezeichnet, und zwar vom braunschweigschen Professor Justus Friedrich Wilhelm Zachariae, der 1767 im herzoglichen Auftrag zur „Hebung der inländischen Papierfabrikation“ die Betriebsstätten bereist hatte.
Zachariae, vom Collegium Carolinum in Braunschweig (Vorläufer der Technischen Universität), musste den Räbker „rühmen”, dass er es verstehe, ein Papier zu bereiten, welches den hochwertigen sächsischen Erzeugnissen, den besten im deutschsprachigen Raum, gleichkomme – und dabei billiger sei und selbst dem holländischen in nichts nachstehe.
Einmal derart vom Professor gerühmt, war er denn auch (unter all den anderen Papiermüllern im Lande) auserkoren, mit dem Professor umfängliche technische Untersuchungen zur Qualitätsverbesserung der hiesigen Fabrikate durchzuführen. Die Einzelheiten mag man bei Lehrmann (s.u.) nachlesen. Vermutlich erklärt dies u.a. den beinahe legendären Aufstieg, den seine Fabrik tatsächlich erfuhr. Auch wurde Scharschmidt bei dieser Gelegenheit automatisch zu einem Pionier des Papierfachs im Herzogtum. Erwähnenswert aber ist infolge der vorherrschenden „Lumpennot“ die in Räbke stattgefundene Neuauflage der Schäfferschen Versuche, nämlich mit anderen „vegetabilischen“ Stoffen als den bisher unentbehrlichen weißen Leinen-Lumpen weißes Papier herzustellen – wie sie später durchaus auch von Goethe bewundert wurden.
Die etablierten Papiermühlen in Deutschland sperrten sich hingegen, nicht nur angesichts Jacob Christian Schäffers gelben, braunen und selbst grünen Schöpfungen.
Denn genauso wenig wie man aus Eisen Gold machen könne, sei es auch unmöglich, aus Holz Papier herzustellen, lautete es aus den Reihen der Fabrikanten. Ganz anders in Räbke ! Hier fand eine Neuauflage der Versuche des Regensburger Pastors Schäffer statt. Mehr noch : hier wurden von Fachleuten Erprobungen mit durchaus aussichtsreichen Materialien wie der Wilden Karde (Weberdistel), Flachs, Hanf, Baumwolle und schließlich gar mit „Pappelweide“ bzw. dem „gemeinen Weidenbaum“ durchgeführt – also auch mit Holzarten ! Diese Stoffe waren zukunftsweisend und haben gerade heute ihren Stellenwert in der Papierproduktion. Das kleine Räbke besetzt damit einen vordersten Platz in der großen Geschichte der weltweiten Papierhistorie auf dem Weg zum Holzpapier ! (Näheres bei Lehrmann, s.u.)
Scharschmidts Alltag jedoch bestand aus Wechselschichten, wobei Tag und Nacht (bei Kerzenlicht!) gearbeitet wurde – als wenn er zwei Bütten hätte. Bald darauf spricht er von seiner „gedoppelten Mühle“ (zwei Bütten). Wir erleben hier die Anfänge der Industrie in neuzeitlichem Sinne.
Zweifellos zählte Scharschmidts Betrieb inzwischen zu den großen in Deutschland ! So hatten von 111 preußischen Papiermühlen im Jahr 1803 gerade mal deren vier (incl. Scharschmidt!) zwei Bütten, und lediglich jener staatliche Großbetrieb zu Kröllwitz bei Halle wies als Ausnahme deren vier auf.
Insbesondere verbesserte er seine Verhältnisse durch die 1786 erfolgte Übernahme der mittlerweile tatsächlich eingegangenen Herzoglichen Papiermühle am Herkling, die er, zwar zur Ölmühle umgebaut, vom Drosten Wahnschaffe erwarb. Ihren Graben warf er zu und legte das Gefälle hinauf zur Mittelmühle, wodurch der Graben sehr tief wurde. Doch wichtiger an dem Erwerb waren ihm neben der Ausschaltung einer erneut drohenden Konkurrenz insbesondere die an der ehemals Fürstlichen haftenden Privilegien wie der große Lumpensammelbezirk und die begehrte zweite Bütte.
Es folgte ca. 1800 Johann Wilhelm Scharschmidt. Wie sein Vater trat er als strategisch operierender Unternehmer auf und brachte 1813, mit dem Erwerb der Obermühle, das gesamte Räbker Papiergeschäft in seine Hand.
Unter seinen Papieren sind jetzt Erzeugnisse auffällig, die seine Fabrik in der schönsten Form eines Zierrand-Papiers verlassen. Mit dem in Seitenmitte angeordneten Ortsnamen „RAEPKE B HELMSTET“ machten sie den kleinen Ort weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt. Im Jahre 1830 allerdings hatte er eine Feuersbrunst verheerenden Ausmaßes zu erleiden, wobei auch ein Papiermachergeselle ums Leben kam. Nun führte er seine neuen Gebäude auch aus Materialien des im Abbruch befindlichen herzoglichen Jagdschlosses Langeleben aus.
Sein insofern finanziell belasteter Sohn Ludwig Gustav führte seit 1834 noch mehr als dreißig Jahre einen Kampf gegen das unabwendbare Unheil. 1845 legte er die sog. Klappermühle als zusätzliches „Beigeschirr“ zur Lumpen-Vorzerkleinerung und zur Unterstützung der beiden Holländer an. 32 „Mannsleute“ nebst – wie ja auch in der Landwirtschaft üblich – den damals zahlreichen zugehörigen Familienmitgliedern, darunter 5–7 Gesellen und 4–5 Lehrlinge, wurden beschäftigt. Sechs Pferde deuten an, dass auch der Vertrieb bzw. Großhandel von Scharschmidt besorgt wurde. Es dürften insgesamt wohl an die 120 Personen gewesen sein, zumal auch die Lumpensammler den Fabriken zugeordnet wurden.
Dann jedoch zerstörte 1845 abermals ein Großbrand das Meiste – nach nur 15 Jahren.
Auch der Neubau erwies sich mit den neuen und teuren Maschinen aus Frankreich und einer aus der Schweiz auf dem teuren Landwege herangeschafften Papiermaschine als Fehlschlag. Es war eine der allerersten im Lande !
Bis dahin wurde auf der Mittelmühle an zwei Bütten, und zwar im Schichtbetrieb Tag und Nacht gearbeitet. Die Fabrik hatte jetzt drei Holländer, deren Antrieb durch zwei Wasserräder mit jeweils ca. sechs Meter Durchmesser (hinzu kommt jenes vom Beigeschirr) und eine ebenfalls zu sehr frühem Zeitpunkt aufgestellte Dampfmaschine mit zugehöriger Dampfkesselanlage erfolgte.
Zu allem Unglück wurde Deutschland in jener Zeit mit billigem Papier aus dem besser technisierten westlichen Ausland überschwemmt…
Im Jahr 1867 wurde der Besitz versteigert. Das bedeutete aber auch das Ende der hiesigen Papierfabrikation. Zugleich erlosch damit eine jahrhundertealte Papiertradition, die dem kleinen Ort, verglichen mit Dörfern mit den üblichen überkommenen agrarisch-ländlichen Strukturen, zu einer eigenen und besonderen Geschichte verhalf und diesen weithin bekannt werden ließ. Die Mittelmühle hatte daran den entscheidenden Anteil.